Niemand beachtete ihn, als er die schlichte Metalldose aus seiner Jackentasche zog. Nur ein kleines Mädchen. Ein Lächeln genügte und ihre Mutter zog sie mit einem verkniffenen Gesicht eilig weiter. Er hatte sich daran gewöhnt. Vielleicht würde er genauso handeln, wenn er wie sie wäre.
Entspannt lehnte er sich gegen die kalten Steine der Kaufhausfassade. In der Dose lagen sechs Ringe, eingebettet in dunkelrotem Samt. Sie glänzten, obwohl sie sehr alt und bereits oft getragen waren. Er wählte den Zweiten von rechts aus, klappte die Dose zu und verstaute sie in der abgetragenen Jacke.
Er holte tief Luft, bevor er den Ring aufsteckte. Die Welt veränderte sich in einem Atemzug. Gedanken und Gefühle wirbelten wie Schneeflocken um ihn herum. Es dauerte einen Moment, bis er sie sortiert hatte und den einzelnen Personen zuordnen konnte. Einkaufslisten, abgehackte Gespräche, die man Chats nannte, stampfende Musik, hektisch springende Gedanken. Jedes Jahr schien es turbulenter zu werden. Doch das war nur die erste Schicht. Mit einer Handbewegung ließ er die Zeit langsamer laufen, damit er sie alle hören und fühlen konnte.
Der Student, der mit seiner Freundin chattete, sorgte sich um seine Noten. Der Geschäftsmann mit der schwarzen Laptoptasche überarbeitete ein Angebot im Kopf. Die Mutter war besorgt, sie könnte ein Geschenk vergessen. Eine ältere Frau trauerte um eine Freundin, die sie erst wenige Monate zuvor verloren hatte. Er suchte lange, bis er endlich fündig wurde. Eine junge Frau fragte sich, wann sie ihren Nachbarn zuletzt gesehen hatte. Er war Rentner, verließ die Wohnung nur noch, um das Nötigste einzukaufen. Sie überlegte, ob sie ihm etwas vom Weihnachtsmarkt mitbringen sollte. Ein Gesteck vielleicht, einen Stollen oder eine frische Tüte mit Schmalzgebäck? Ob er sich darüber freuen würde? Und ein kleiner Junge suchte in der Menge nach einem dicken Mann mit einem weißen Bart. Seine Mutter hatte ihm versprochen, sie würden den Weihnachtsmann treffen. Seither scannte er jeden breiten Rücken, suchte nach silbrig weißen Haaren unter Mützen und Hüten.
Er lächelte. Es kam nicht viel Energie zusammen, aber sie würde reichen, ein paar Wünsche zu erfüllen. Die Kinder waren die besten Lieferanten. Nach wie vor klammerten sie sich an die alten Geschichten, ließen sich von zahlreichen Weihnachtsmännern verzaubern, hofften auf das Geräusch von Glöckchen oder suchten den Himmel nach Kufenspuren ab.
Er drehte den Ring. Glänzende Fäden streiften die Fußgänger und eilten ihn voraus in Zukunft. Der Geschäftsmann wurde von seiner Frau mit seinem Lieblingsessen überrascht, der Student schaffte gerade eben so seine Prüfung, die ältere Frau erhielt einen Anruf von einer gemeinsamen Freundin. Ein lange aufgeschobenes Treffen sollte endlich Wirklichkeit werden. Die Mutter hatte tatsächlich ein Geschenk vergessen. Sie schob die Schuld auf den überlasteten Weihnachtsmann und versprach, den Wunsch persönlich zu erfüllen. Sie würde sich noch Jahre an den entspannten nachweihnachtlichen Tag im Einkaufszentrum erinnern.
Die junge Frau entschied sich für ein Gesteck. Als sie es ihrem Nachbarn bringen wollte, stand der gepackte Koffer bereits im Hausflur. Der Rentner wollte die Feiertage bei seinem Sohn verbringen. Auch wenn sie es war, die die Kerze anzündete, sah sie ihren Nachbarn nach der Rückkehr öfter. Ab und zu blieben sie im Hausflur stehen, um sich zu unterhalten.
Der Junge wurde für seine Mühe belohnt. Er traf mehr Weihnachtsmänner, als seinen Eltern lieb war, wurde mit Schokolade und Gutscheinen beschenkt. Doch die größte Überraschung bot sich ihm am Heiligen Abend, als ein großer bärtiger Mann vor ihrer Haustür stand und die Geschenke der Familie in einem großen Jutesack überreichte. Der Junge würde allen erzählen, er hätte den einzig echten Weihnachtsmann getroffen und daran glauben, solange es ihm möglich war.
Seufzend zog er den Ring vom Finger. Es war Zeit zu gehen. Man war auf ihn aufmerksam geworden. Solche wie ihn sah man zur Weihnachtszeit nicht gerne. Männer in heruntergekommener Kleidung, die vor Kaufhäusern herumlungerten. Er legte den Ring zurück in das Kästchen, stieß sich von der Hauswand ab. Dabei streifte er wie aus Versehen die alte Frau. Zumindest für einen Tag würde sie sich leichter fühlen. Der kleine Junge glaubte, weiß schimmernde Haare unter seinem tief ins Gesicht gezogenen Hut zu entdecken, aber als er seiner Mutter den Mann zeigen wollte, war er bereits in der Menschenmenge verschwunden.